Weniger als ein Viertel aller Flüsse weltweit fließt auf der gesamten Länge ungehindert durch Staudämme oder menschengemachte Regulierungen ins Meer. Unter den mehr als tausend Kilometer langen Flüssen kann nur rund ein Drittel dem von der Natur vorgegebenen Lauf folgen. Das ergab eine umfangreiche Studie eines großen internationalen Wissenschaftlerteams aus Mitgliedern der Naturschutzorganisation World Wide Fund for Nature (WWF) und von Forschungseinrichtungen. An der Studie waren maßgeblich Professorin Christiane Zarfl vom Zentrum für Angewandte Geowissenschaften der Universität Tübingen sowie auch Klement Tockner, langjähriger Direktor des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und Professor für aquatische Ökologie an der Freien Universität Berlin, beteiligt.
Das Team bezog zwölf Millionen Flusskilometer weltweit in die Studie ein. Untersucht wurde vor allem jeweils die Vernetzung des Flusses mit seinem Überschwemmungsgebiet und dem Grundwasser sowie der Stoffaustausch mit den verbundenen Biotopen – die Forscher fassen diese Eigenschaften als Konnektivität des Flusses zusammen. Diese kann als Maß gelten für den Zustand eines Flusses, der mit ihm verbundenen Ökosysteme und deren Artenvielfalt. Die Quantifizierung und Kartierung sollen außerdem als Grundlage für den Erhalt der letzten naturbelassenen Flüsse dienen und eine Priorisierung von Renaturierungsmaßnahmen unterstützen. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.
Ökosysteme mit großer Artenvielfalt
Frei fließende Flüsse lassen global die Ökosysteme mit der größten Artenvielfalt und Dynamik ent-stehen, vergleichbar tropischen Regenwäldern und Korallenriffen. Zugleich bieten Flüsse zum Bei-spiel für die Süßwassernutzung, Bewässerung in der Landwirtschaft, durch Fischfang und Energie-gewinnung aus Wasserkraft wichtige Lebensgrundlagen für viele Millionen von Menschen. So zählte das Wissenschaftlerteam in der neuen Studie allein rund 2,8 Millionen Dämme, hinter denen Reser-voire von mindestens tausend Quadratmetern Wasserfläche entstanden sind, auf den zwölf Millionen untersuchten Flusskilometern. „Das führt zur Fragmentierung des Flusslaufs und hat teilweise schwerwiegende Auswirkungen auf das ganze Flusssystem“, sagt Christiane Zarfl. Durch die Weiterentwicklung der Infrastruktur für eine steigende Zahl von Menschen seien Flüsse und ihre Ökosysteme weltweit zunehmend bedroht.
Konnektivität als Maß
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entwickelten in ihrer Studie eine neue Methode, um den Zustand eines Flusses zu beurteilen. Zentrales Maß ist dabei die Konnektivität eines Flusses mit Bewertungen zum freien Wasserfluss, zu den Bewegungsmöglichkeiten von Organismen sowie zum Transport von Sedimenten, organischen Stoffen, Nährstoffen und Energie. In die umfassende Untersuchung gingen vier Dimensionen ein: in Fließrichtung, flussauf- und abwärts im Flussbett; über die Flussufer hinaus, zwischen dem Hauptbett des Flusses und der Aue; in vertikaler Richtung zwischen dem Grundwasser, dem Fluss und der Atmosphäre sowie in zeitlicher Abhängigkeit bedingt durch die Jahreszeiten. Darüber beurteilte das Wissenschaftlerteam, welche Flüsse noch als frei fließend betrachtet werden können. „Heute sind sie weitgehend auf abgelegene Regionen wie die Arktis, das Amazonasbecken und das Kongobecken beschränkt“, sagt Christiane Zarfl. „In dicht bevölkerten Erdregionen wie Nordamerika, Europa und Südasien sind nur noch wenige sehr lange Flüsse frei fließend, allen voran der Irrawaddy und der Saluen.“
2015 verabschiedeten zahlreiche Nationen beim UNO-Nachhaltigkeitsgipfel in New York Nachhaltigkeitsziele, die auch den Schutz beziehungsweise die Wiederherstellung wassergebundener Ökosysteme vorsehen. Dennoch seien zurzeit mehr als 3.700 neue und große Dämme zur Wasserkraftnutzung in Planung, sagt die Wissenschaftlerin, zum Beispiel in den Balkanstaaten, im Amazonasgebiet, vor allem aber in Asien, in China und im Himalaja. Außerdem seien etwa in Indien, China und Brasilien große Bewässerungsvorhaben geplant oder bereits im Bau, die das Ausbaggern von Flüssen, ihre Kanalisierung oder den Bau von Talsperren oder Dämmen erfordern. „Wir haben nun erstmals ein umfassendes Informationssystem mit hoher Auflösung zu den Flüssen der Erde angelegt. Es soll auch dazu dienen, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten der Ökosysteme und die Folgen künftiger Eingriffe deutlich zu machen“, erklärt Christiane Zarfl. Übergeordnetes Ziel sei die Erhaltung der letzten frei fließenden Flüsse der Erde.