Täglich verkündet das Robert-Koch-Institut seit Beginn der Pandemie die Anzahl der offiziell bestätigten Corona-Neuinfektionen und die Entwicklung der Sieben-Tage-Inzidenz. Das Problem dabei: Die Zahlen bilden das tatsächliche Infektionsgeschehen immer erst mit einer Verzögerung von bis zu zwei Wochen ab. Dabei könnte ein An- oder Abstieg der Inzidenz bereits einige Tage im Voraus bestimmt werden – mithilfe des Berliner Abwassers.
Seit Februar dieses Jahres analysieren dafür Forschende des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin (MDC) in der Helmholtz-Gemeinschaft in Berlin jede Woche das Abwasser Berlins auf Coronaviren. Denn nicht nur Medikamente- und Drogenrückstände lassen sich im Stuhl, Urin und Speichel nachweisen. Auch Viren wie das Sars-CoV-2-Virus hinterlassen Spuren im Abwasser.
Selbst kleine Virusmengen sind nachweisbar
„Wir können sehr genau messen, wieviel Virus-RNA im Abwasser vorkommt.“
— Markus Landthaler, Leiter des Projekts
Neben seiner Arbeitsgruppe sind noch weitere Labore des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des MDC an dem Projekt beteiligt. Die Berliner Wasserbetriebe (BWB) kooperieren darüber hinaus mit dem Umweltbundesamt (UBA) und dem Umweltforschungszentrum (UFZ) in Leipzig.
Doch wie funktioniert die Abwasser-Analyse genau? Zunächst fließt das Abwasser aus Wasch- und Toilettenbecken durch die Berliner Kanalisation in die sechs Klärwerke Berlins. Dort entnehmen Mitarbeitende der Wasserbetriebe regelmäßig Proben, um die Wasserqualität zu überprüfen. Seit Februar schicken sie vier Proben außerdem einmal pro Woche an das MDC. Dort filtern die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die bräunlichen Abwasserproben. Die Viruspartikel, die sie dabei finden, reichern sie an. Anschließend isolieren und sequenzieren sie das Erbgut der Viren und analysieren die Daten. So können die Forschenden die Menge der Viren, die Viruslast, bestimmen. Selbst kleinste Mengen sind nachweisbar.
Außerdem können die Forschenden feststellen, um welche Virusvarianten es sich handelt und in welchem Verhältnis sie auftauchen – das eigentliche Ziel der Forschungsgruppe. „Wir können ganz klar sehen, dass wir es gerade fast ausschließlich mit der britischen Mutante zu tun haben“, erklärt Landthaler. Die genaue Zahl der Infizierten lasse sich zwar nicht durch das Abwasser herleiten. Jedoch könne man klar einen Trend erkennen, ob die Virenmenge im Stadtgebiet steige oder falle.
Anstieg der Infektionszahlen frühzeitig erkennen
Die Abwasser-Analyse könne daher in Zukunft als Corona-Frühwarnsystem dienen. „Wir können mit der regelmäßigen Untersuchung des Abwassers zum Beispiel rechtzeitig feststellen, ob neue Virus-Mutationen in Berlin angekommen sind, etwa die indische oder die brasilianische Variante“, sagt Landthaler. Auch der Anstieg der Infektionszahlen könne so frühzeitig angezeigt werden.
Der große Vorteil an der Abwasser-Analyse: „Wir erfassen mit unserer Methode auch Menschen ohne typische Corona-Symptome“, so Landthaler. Nicht nur in Berlin wird das Abwasser auf Coronaviren überprüft. In Deutschland gibt es mehrere lokale Projekte, so auch an der TU Darmstadt. Dort analysieren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Abwasserproben aus Frankfurter Kläranlagen, die Aufschlüsse über das Infektionsgeschehen geben sollen. Bereits ab einer Inzidenzzahl von fünf konnten die Forscher zuverlässige Daten auswerten, heißt es in einer Mitteilung der TU Darmstadt.
Neben der Chance eines Frühwarnsystems könne ein systematisches Abwasser-Monitoring auch dazu dienen, Corona-Hotspots zu identifizieren. Würde man zum Beispiel das Abwasser von Wohnkomplexen regelmäßig auf Viren überprüfen, könnte man so einen Ausbruch rechtzeitig feststellen, erklärt Landthaler, natürlich nur mit der Zustimmung der Bewohnerinnen und Bewohner. „Ziel wäre es, so nah wie möglich an die Haushalte zu kommen, damit wir bessere Analysen für lokale Bereiche durchführen können“, sagt Landthaler.